Kennst Du das? Da steht eine Entscheidung an, ein Gespräch, eine neue Herausforderung – und plötzlich ist sie da: die Angst. Manchmal ganz leise, wie ein Ziehen im Bauch. Manchmal laut, wie ein innerer Widerstand.
Dabei ist Angst kein Zeichen von Schwäche. Sie ist ein biologisch hochintelligentes Warnsystem, das auf Unsicherheit reagiert – ob an der Felswand oder im Büro.
Und genau deshalb möchte ich Dich mitnehmen. An einen Ort, an dem Angst ganz unmittelbar spürbar wird: die Kletterwand.
Ich klettere seit über 20 Jahren. Und ich habe gelernt: Zwischen Griffen, Seilen und Karabinern lassen sich erstaunliche Dinge über Mut, Selbstführung und innere Klarheit lernen.
Die Wand als Testfeld für den Kopf
Wer klettert, weiß: Die größte Hürde ist selten körperlich. Sie beginnt im Kopf.
Du bist in der Wand, kurz vor einer Schlüsselstelle. Dein Puls steigt, der nächste Griff ist unsicher. Ein kurzer Blick nach unten – und plötzlich ist sie da: die Angst.
Keine Theorie. Reines Erleben.
Du kannst nicht ausweichen. Keine Mails, keine To-dos, kein Scrollen. Nur Du, Dein Atem – und die Entscheidung: Gehe ich weiter oder steige ich ab?
Und genau hier geschieht etwas Interessantes. Das Gehirn – genauer: die Amygdala – schlägt Alarm. Die Stressachse wird aktiviert. Das ist evolutionär sinnvoll, aber im modernen Alltag oft übertrieben.
Wenn Du jetzt bei Dir bleibst – atmest, analysierst, einen Plan entwickelst – lernst Du Selbstregulation. Und das ist trainierbar, wie Muskelkraft.
Mut ist kein Talent – sondern trainierbar
Viele glauben, Mut sei etwas, das man „hat“ oder eben nicht. Die Forschung zeigt ein anderes Bild. Mut ist keine Persönlichkeitseigenschaft – er ist situationsabhängig und entwickelbar. Wie ein Muskel. Du musst ihn regelmäßig bewegen, damit er wächst.
Beim Klettern kann das heißen: eine Route angehen, die Dich nervös macht. Nicht blindlings, sondern bewusst. Schritt für Schritt. Dabei merkst Du: Ich kann mehr, als ich dachte.
Im Alltag bedeutet Mut oft etwas viel Kleineres – aber nicht weniger Wertvolles:
Ein klares Nein in einer Besprechung.
Ein offenes Gespräch, das Du lange aufgeschoben hast.
Ein neuer beruflicher Schritt, trotz Unsicherheit.
Mut wächst dort, wo wir Unsicherheit nicht vermeiden – sondern ihr mit Haltung begegnen.
Deine Angst: Kein Gegner, sondern ein Signal
Oft fragen mich Menschen: „Hast Du beim Klettern keine Angst?“
Doch, natürlich. Ich wäre töricht, wenn nicht.
Aber Angst ist nicht das Problem.
Das Problem ist unsere Haltung dazu.
Viele sehen Angst als Stoppschild. Als Zeichen von Schwäche. Dabei ist sie meist ein Hinweis: Hier steht etwas auf dem Spiel. Hier ist Entwicklung möglich.
Wenn wir aufhören, Angst zu bekämpfen, und anfangen, sie zu beobachten, entsteht eine neue Haltung: Wir hören hin. Und entscheiden bewusst, wie wir damit umgehen.
Das gilt beim Klettern – und bei jedem mutigen Schritt im Leben.
In der klinischen Psychologie unterscheidet man zwischen funktionaler und dysfunktionaler Angst. Funktionale Angst warnt uns – vor echten Risiken.
Dysfunktionale Angst hingegen lähmt – ohne echten Grund.
Die Kunst liegt darin, beides auseinanderzuhalten. Und genau das übst Du beim Klettern:
Du spürst die Angst.
Du überprüfst die Lage.
Du entscheidest bewusst: Bleibe ich stehen – oder wage ich den nächsten Schritt?
Diese Haltung ist übertragbar: auf Entscheidungen, Gespräche, Veränderungen.
Vom Klettern zur Selbstführung
Ich habe oft erlebt: Wenn ich im Alltag mit etwas hadere, spüre ich es zuerst an der Wand. Plötzlich passt die Körperspannung nicht. Ich verliere den Flow. Meine Gedanken wandern. Und ich merke: Da ist etwas, das mich blockiert.
Klettern ist für mich ein seismografisches Frühwarnsystem geworden. Es zeigt mir meine mentale Verfassung – ehrlich, ungefiltert, oft schonungslos.
Und es hat mich gelehrt:
Angst ist kein Gegner, sondern ein Signal.
Fokus ist trainierbar – auch unter Druck.
Mut entsteht nicht durch Abwesenheit von Angst, sondern durch den Umgang mit ihr.
Ob an der Wand oder im Alltag: Angst ist kein Zeichen, dass Du etwas nicht tun solltest. Sie ist ein Zeichen, dass Dir etwas wichtig ist. Mut entsteht, wenn wir hinschauen, statt auszuweichen. Wenn wir lernen, mit uns selbst klarzukommen – unter Spannung, unter Unsicherheit, unter echten Bedingungen.
Bist Du bereit für eine kleine Mut-Übung? Nimm deinen persönlichen "nächsten Griff" in den Blick
Nimm Dir einen Moment Zeit – am besten mit einem Stift und Papier oder in der Notiz-App. Überlege Dir eine Situation in Deinem Alltag, bei der Du gerne etwas mutiger wärst. Vielleicht gibt es ein Gespräch, das Du schon lange führen willst? Eine Entscheidung, die ansteht? Oder etwas Neues, das Du ausprobieren möchtest, aber Dich bisher nicht getraut hast?
Schritt 1: Benenne Dein Ziel.
Was ist der „nächste Griff“, den Du wagen möchtest? Halte ihn konkret und realistisch. (Beispiel: „Ich spreche meine Teamleiterin nächste Woche auf meine Ideen fürs Projekt an.“)
Schritt 2: Wie fühlt sich das an?
Was macht Dir daran vielleicht noch Angst oder sorgt für Unsicherheit? Erkenne es bewusst an – das gehört dazu.
Schritt 3: Was brauchst Du, um diesen Schritt zu gehen?
Unterstützung? Einen Plan? Einen Termin? Halte fest, was Dir helfen würde, damit Du nicht loslassen musst, wenn’s mal wackelig wird.
Schritt 4: Feiere jeden Schritt.
So wie beim Klettern zählt jeder Zug, auch wenn Du die Route (noch) nicht ganz schaffst. Jeder Versuch stärkt Deinen Mut-Muskel.